"Orientierung", Heft 2/06
Grenzenlos Kultur
Die Lebenshilfe gGmbH Kunst und Kultur wurde 1996 in Mainz gegründet und veranstaltet seit 1997 Projekte im Bereich Kunst und Behinderung. Die Tätigkeitsbereiche umfassen die Organisation und Durchführung von integrativen Festivals, Kulturprojekten und Kunstseminaren, die Vermittlung von integrativen Ensembles und KünstlerInnen mit Behinderung sowie die Beratung von Institutionen der Behindertenhilfe und Kulturarbeit in allen Belangen des Themenkomplexes Kunst und Behinderung. Geschäftsführer Andreas Meder im Gespräch mit der Orientierung.
Orientierung: Herr Meder, stellen Sie Ihre GmbH vor!
A M: Die Lebenshilfe gGmbH Kunst und Kultur konzipiert, organisiert und veranstaltet bundesweit Projekte im Bereich Kunst und Behinderung. Mit den Mitteln der Kunst und über das Medium der Kunst wollen wir mit diesen Veranstaltungen insbesondere einen Beitrag leisten zugunsten des gleichberechtigten Zusammenlebens behinderter und nichtbehinderter Menschen. Kreative oder künstlerische Leistungen sind Ausdruck der jeweiligen Gestaltungskraft und Persönlichkeit derjenigen, die sie geschaffen haben. Hierin sind sich behinderte und nichtbehinderte Menschen gleich. Vor diesem Hintergrund versuchen wir vor allem, den kulturellen Beiträgen behinderter Künstler und integrativer Kunstprojekte ein Öffentlichkeitswirksames Forum zu bieten und bei nichtbehinderten Menschen Interesse zu wecken für diese künstlerischen Arbeiten sowie an gemeinsamem kreativem Schaffen und kulturellem Austausch - und damit letztlich auch am gemeinsamen Gestalten des Alltagslebens. Unsere Angebote richten sich grundsätzlich an alle Kulturinteressierten, ob regelmäßiger Theatergänger oder erstmaliger Workshopteilnehmer, ob behindert oder nichtbehindert. Begegnung in der Kunst über vermeintliche Grenzen hinweg ist ja ein zentrales Motiv und Anliegen unserer Arbeit.
Orientierung: Was hat Ihre Arbeit mit Sinnen zu tun?
A M: Na, im Rahmen unserer Arbeit bieten wir hauptsächlich integrative Kulturfestivals an, veranstalten Theateraufführungen und Performances, Konzerte und Lesungen. Das scheint mir ja kein vornehmlich kognitives, sondern ein stark sinnliches Erlebnis zu sein. Abgesehen davon, dass wir geistig behinderte Menschen als Zuschauer erreichen und ein sinnliches Freizeiterlebnis anbieten wollen, setzen etwa Theateraufführungen mit professionellen behinderten Akteuren auch in soziopolitischer Hinsicht gerade auf einer unbewussten, stark sinnlichen Ebene nachhaltige Akzente. Es ist meines Erachtens weniger die intellektuelle Analyse, als vielmehr ein nachgerade körperliches Empfinden bei den sogenannten nichtbehinderten Zuschauern, dass da auf der Bühne etwas Spannendes passiert, dass geistig behinderte Menschen dabei Großartiges leisten, dass sie als Kunstschaffende auf dem Ersten Arbeitsmarkt tätig sind, dass sie gesellschaftlich ebenbürtig sind. Zahllose Kommentare, nicht nur von klassischen Theaterbesuchern, sondern auch von Politikern und anderen Meinungsbildnern belegen dies. Über das sinnliche Erleben solcher Ereignisse passiert tatsächlich etwas in Richtung Integration und Gleichstellung.
Orientierung: Beziehen sich Ihre Angebote für behinderte Menschen nur auf passives Erleben einer Aufführung oder ist auch aktives sinnlich-kulturelles Handeln möglich?
A M: Der sinnliche Charakter unserer Angebote gilt erst recht für die Workshops in verschiedenen Künsten, die seit Beginn unserer Unternehmungen die Programmgestaltung maßgeblich bestimmen. Über den Aspekt der Begegnung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen hinaus verfolgen diese Workshops das Ziel, neue, ungewohnte, sinnliche Zugänge zu Kunst und Kultur zu schaffen. Und dies auch explizit für geistig behinderte Menschen, die gemeinhin nicht die Hauptzielgruppe kultureller Bildungsangebote darstellen. Aktiv sinnliches Handeln als praktische Weiterbildung in künstlerischen Zusammenhängen, integrativ angeboten für neugierige Einsteiger und versierte Kunstschaffende, war immer ein wichtiger und häufig ein begeistert angenommener Festivalbestandteil. Aber auch einwöchige Seminarreisen, etwas nach Berlin, Luxemburg und London, waren nachweislich äußerst nachhaltige Kulturerlebnisse und prägende Sinnesausflüge.
Orientierung: Gibt es Techniken in der Kulturarbeit, die sich für behinderte Menschen besonders gut eignen?
A M: Da bin ich letztlich der falsche Ansprechpartner. In der Regel inszenieren wir nicht, sondern laden professionelle Ensembles ein, die mit behinderten Menschen künstlerisch arbeiten. Meiner Meinung nach gibt es jedoch zunächst einmal keinerlei wirkliche Einschränkungen in der Kulturarbeit mit geistig behinderten Menschen. Wichtig ist hinsichtlich professioneller Kulturarbeit der genuin künstlerische Zugang, abseits therapeutischer oder pädagogischer Zielsetzungen, der unbedingte Glauben an das eigene Projekt und die Suche nach künstlerischen Wegen, die nicht im Nachvollzug nur kognitiv zu erlernender Kulturtechniken, sondern mit Blick auf die jeweils ganz speziellen Ausdrucksmöglichkeiten eine künstlerisch eigene Formensprache ermöglichen und entwickeln. Dann kann in glücklichen Momenten ästhetisch innovative Kunst entstehen.
Orientierung: Gilt bei Ihrer Kulturarbeit der "Behindertenbonus"?
A M: Verrisse wünsche ich mir natürlich nicht, eine ehrliche und kritische Berichterstattung sehr wohl. Ein sogenannter Behindertenbonus ist gänzlich unangebracht, er hilft niemandem und wird dem professionellen Anspruch integrativer Ensembles in keinster Weise gerecht. Beim Mainzer Festival „Grenzenlos Kultur“ etwa gibt es nicht nur eine umfangreiche Medienberichterstattung, sondern mitunter auch durchaus sehr kritische Anmerkungen zu Aufführungen mit geistig behinderten Künstlern und Künstlerinnen. Ich erachte solche Kritik als große Anerkennung für das Festival und die dort auftretenden Gruppen. Wir sind mit unserem ungewöhnlichen Programm in der regulären Kunstszene angekommen und müssen uns den regulären Bewertungsmaßstäben stellen. Bevor ein vermeintlich behindertenfreundlicher Kritiker mit einer vermeintlich wohlwollenden, sozial netten Beurteilung seine Ablehnung des Gesehenen nach Maßgabe künstlerischer Kriterien kaschiert, wünsche ich mir dann doch deutlich lieber den Verriss.
Orientierung: Wie hat das alles angefangen?
A M: Am Anfang, im Jahre 1996, stand die damals durchaus noch vage Idee des Landesverbandes der Lebenshilfe Rheinland-Pfalz, mit einer Projektwoche auf künstlerische Leistungen behinderter Menschen aufmerksam zu machen. Diese Idee führte sehr schnell zur Gründung der Lebenshilfe gGmbH Kunst und Kultur, die dann im Juli 1997 unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Dr. Roman Herzog in Mainz das Festival "Grenzenlos Kultur" veranstaltet hat. Mit über 350 Künstlern und Künstlerinnen aus acht europäischen Ländern, zumeist ausverkauften Aufführungen, restlos ausgebuchten Workshops und mehreren tausend begeisterten Zuschauern gilt dieses Projekt bis heute vielen Mitwirkenden und Besuchern als das nachhaltigste integrative Festival in Deutschland.
War das Lebenshilfe-Festival zunächst als einmaliges Ereignis geplant, so führte der überraschend große Erfolg zum dauerhaften Bestand der Lebenshilfe gGmbH Kunst und Kultur. Von 1998 bis heute konnten in vielen Städten und Regionen Deutschlands Festivals, Kunstprojekte, Workshops und Ausstellungen durchgeführt werden – so auch etwa im Juli 1999 zusammen mit dem Lebenshilfe-Werk Weimar/Apolda und in Kooperation mit der Weimar Kulturstadt GmbH. Erstmals war mit dem Festival "kontakte 99" in Weimar damit ein Kulturprojekt unter maßgeblicher Beteiligung behinderter Künstler offizieller Programmbeitrag einer Europäischen Kulturhauptstadt.
Anläßlich der sechsten Auflage des Grenzenlos-Festivals 2004 in Mainz hat der rheinland-pfälzische Kulturminister Prof. Dr. Zöllner dieses "einzige kontinuierliche, künstlerisch hochwertige, integrative Kulturfestival der Bundesrepublik" explizit hervorgehoben. Die Zuschauerrekorde würden belegen, dass auch schwierige Themen ihr Publikum finden, wenn man den Mut hat, solche Projekte über Jahre kontinuierlich aufzubauen und ein Publikum von neuen und innovativen Dingen zu überzeugen. In diesem Sinne sind unsere Planungen für weitere integrative Kulturprojekte in vollem Gange.
Das Interview führte Uwe Saßmannshausen, Integrative Schule Frankfurt