MENSCHEN. das magazin,
Ausgabe 1/2007

 


Theater, grenzenlos
Eindrücke vom integrativen Theaterfestival No Limits
von Gert Hartmann

Die darstellende Kunst gilt als Laboratorium gesellschaftlicher Fantasie, das gilt besonders für das integrative Theater in Europa, das sich als fester Bestandteil der Bühnenlandschaft etabliert hat. Dieses Theater ist wagemutig, verrückt und poetisch – und längst kein Geheimtipp mehr. Die Schauspieler sind Profis. Sie spielen ihre Rolle und mit ihrem Selbst.

Ein Samstag im vergangenen Oktober, in einem angesagten Theater im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg. Es ist 18 Uhr: Der Saal ist wohlgefüllt. Auf der Bühne ein knappes Dutzend Spieler und Musiker. Mit Akkordeon und Trompeten sowie einem merkwürdigen Dialog zwischen Hoch- und Schwyzerdeutsch geht es los.
23 Uhr: Merklich weniger Zuschauer. Die Szene hat sich nach fünf Stunden Spielzeit in einen Stuhlhaufen verwandelt, auf dem recht lustige Dinge passieren.
4 Uhr früh: Hinter der Bar im Foyer raucht die Tresenkraft erschöpft eine Zigarette, die Kamera aus dem Saal überträgt langgezogene Töne, sonst passiert nichts auf der Videoleinwand.
17.30 Uhr am nächsten Tag: Das Stück ist noch immer nicht zu Ende. Eine absurde Weihnachtgeschichte bündelt nochmals alle Kräfte. Erschöpft, aber laut stürzt sich das Ensemble ins gesungene Finale.
Sieht so Theater von Menschen mit Behinderung aus? Mittlerweile schon. „Die Lust am Scheitern“ heißt dieses 24-Stunden-Experiment der Schweizer Gruppe Hora, in totaler Improvisation aufgeführt im Rahmen des No-Limits-Festivals im Oktober in Berlin. Die Grenzen zwischen behindert und nicht behindert sind hier ebenso verwischt wie unwichtig, niemand fordert und erhält mehr einen Sozialbonus. Selbstbewusst und ohne falsche Rücksichtnahme zeigt man seine Eigenartigkeit und ordnet sich damit gleichzeitig als etwas anderer Bestandteil in die Kulturszene ein.
Das integrative Theater in Europa ist erwachsen geworden. So erwachsen, dass Theater Hora - in einem anderen Stück - die bemüht kaschierten Dressurversuche eines ambitionierten Regisseurs an seinem behinderten Ensemble im Mantel einer leichten Komödie thematisieren kann.
Die Züricher Gruppe, die seit 1993 an einer eigenen Ästhetik der Natürlichkeit arbeitet und deren Darsteller mit Behinderung mittlerweile sogar von der Sozialversicherung als Kunstprofis anerkannt werden, ist zwar eine bekannte Marke in der europäischen Szene, aber keine Ausnahmeerscheinung.
In fast allen west- und nordwesteuropäischen Ländern haben sich in den letzten Jahrzehnten Gruppen etabliert, die sich als professionell definieren und ihr Spektrum ständig erweitern. Die Themen sind genauso vielfältig wie die stilistischen Varianten. Von der live mit einem Internet-Chat verbundenen Tanzperformance bis zur bilderschweren Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Mythos, die an den polnischen Theatergroßmeister Tadeusz Kantor erinnert, reicht die Bandbreite.
Integratives Theater spiegelt mittlerweile fast alle aktuellen Tendenzen wider. Die Beschäftigung mit Behinderung bildet längst nicht mehr zwangsläufig das inhaltliche Zentrum. Was sicher auch daran liegt, dass die Berührungsängste seitens nicht behinderter Künstler immer kleiner und ihre Neugier auf die Besonderheit des Ausdrucks und der Weltsicht behinderter Kollegen immer größer geworden ist.
Beispiel Stap. Das belgische Theater ist ein Pionier. Als Eric Wouter 1986 seine erste Produktion herausbrachte, stellte die pure Anwesenheit von Darstellern mit geistiger Behinderung auf der Bühne noch eine Provokation dar. Bald schon experimentierte die Gruppe im Zusammenspiel mit klassischen Tänzern und Schauspielern. Gastregisseure verschiedener Stilrichtungen folgten, was die Truppe zu einem Treffpunkt zwischen Darstellern mit Behinderung und Kreativen aus allen Kunstbereichen machte. Schon 1991 konnte ein Werkstattmodell etabliert werden, das 15 behinderten Akteuren einen Ganztagsjob und damit die Möglichkeit zur Professionalisierung bot. Die aktuelle Produktion „Ook“ zeigt aufs Schönste die Ergebnisse eines langfristigen Öffnungs- und Austauschprozesses. Sidi Larbi Cherkaoui und Nienke Reehorst, die beiden Choreografen, haben so prominente Arbeitgeber wie Les Ballet C. de la B., Wim Vandekeybus oder Anna Teresa de Keersmaeker in ihrem Curriculum vorzuweisen, also die Bel-Etage der europäischen Tanzszene. Ganz behutsam nähern sie sich in dem wortkargen aber musiksatten Tanzstück den persönlichen Träumen ihrer zehn Spieler an. Da kann es einen stationenreichen, sehr witzigen Weg brauchen, bis ein Taschentuch endlich dort ankommt, wo es hin soll: in ein Gesicht, um Tränen zu trocknen. Da versucht sich einer als starker Boxring-Mann und alle wollen neue Gesichter. Poetische Bilder wechseln mit grellen Bewegungssequenzen, und es ist völlig egal, ob da Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen. Die Sehnsüchte unterscheiden sich so groß nicht.

In England, das ebenfalls über eine sehr aktive Szene verfügt, ist vor allem die Verknüpfung von Aufführungspraxis mit theaterpädagogischen Angeboten bemerkenswert. Auf der Insel hat Schultheater traditionsgemäß einen großen Stellenwert. Deshalb ist ein eigenes „Education department“ auch für die etablierten integrativen Gruppen eine willkommene - und staatlich geförderte - Pflicht. Die Anjali Dance Company bietet beispielsweise neben Kursen für Menschen mit Lernbehinderung und einer eigenen offenen Jugendgruppe auch Workshops speziell für interessierte Profitänzer an. Die Graeae Theatre Company - eine der ältesten Gruppen Europas, die mit Körperbehinderten und Sinnesgeschädigten arbeitet - geht noch einen Schritt weiter: Gemeinsam mit der Londoner Metropolitan University bildet sie in neunmonatigen Kursen behinderte Profischauspieler aus. „Missing piece“ heißt das Prgramm, eine selbstbewusst-ironische Umdeutung des „missing link“ in der Evolutionsgeschichte.
In Deutschland stellt sich die Situation zwiespältig dar. Freizeitpädagogische Angebote gibt es reichlich. Aber: „Im Theaterbereich ist die Szene von Gruppen sehr dünn, die einen professionellen Anspruch haben und ihn auch einlösen können“, konstatiert Andreas Meder, als Veranstalter diverser integrativer Festivals ein versierter Kenner des Angebots.
Auf den ersten Blick eine erstaunliche Aussage, denn integratives Theater hat hierzulande eine über 20 jährige Tradition. Seit sich 1985 Patienten und Mitarbeiter der Langzeitpsychiatrie Blankenburg mit einer Pappmachéskulptur, einem Theaterstück und einigen Künstlern auf den Weg machten, um die Auflösung der Verwahranstalten zu fordern, hat sich einiges getan. Nicht nur im Bremer „Atelier Blaumeier“, das mit dieser „Blauen Karawane“ seine Geburtsstunde hatte und dessen pralles Volkstheater bis heute international beachtet wird.
Aber Professionalisierung ist in Deutschland beschwerlicher als anderswo. Während in vielen Nachbarländern integrative Theater als eigenständige Kooperativen anerkannt werden und damit staatlich finanzierte Vollzeitarbeitsplätze schaffen können, ist das hierzlande nur über große Umwege möglich. Ohne eine „klassische“ Behindertenwerkstatt als Dach und Träger geht gar nichts. Das Berliner Theater Thikwa funktioniert seit 1998 nach diesem komplizierten Konstrukt: Als Zweigstelle der Nordberliner Werkgemeinschaft bietet die hauseigene Theaterwerkstatt Qualifizierungsmöglichkeiten für 20 Beschäftigte im künstlerisch-darstellenden Bereich. Gelder für Produktionen und damit schlussendlich für die Arbeitsausübung der ausgebildeten Darsteller sind jedoch in einem normalen Werkstattbudget nicht vorgesehen. Die muss sich das Theater aus wechselnden Kulturtöpfen holen - eine wiederkehrende Zitterpartie ohne Absicherung.
In den 16 Jahren seit seiner Gründung hat sich Thikwa zu einer festen Größe in der Berliner Kulturlandschaft hochgespielt. Das Grundkonzept einer kreativen Begegnung zwischen behinderten und nichtbehinderten Künstlern hat auch hier einen Steinbruch der Stile geschaffen. Wobei die Stärke der rührigen Kreuzberger Truppe, die seit 2006 ihr eigenes Theater bespielt, im körperorientierten Performancebereich mit einer starken, geschlossenen Bildästhetik liegt.

Zwei Stadtteile weiter nördlich, im Prenzlauer Berg, residiert das dritte Schwergewicht der bundesdeutschen Szene: RambaZamba. Das kurz nach der Wende von Gisela Höhne und Klaus Erforth gegründete Theater besteht mittlerweile aus zwei eigenständig arbeitenden Ensembles. Bunte, sehr sinnliche Stücke, die oft Mythen oder Klassiker zum Ausgangspunkt für eine phantastische Reise in eine Welt nehmen, in der Anderssein nicht Schwäche sondern Stärke darstellt, sind deren Markenzeichen. Mit dem rasanten Dribbel-Stück „Ein Herz ist kein Fußball“ schaffte es RambaZamba sogar ins offizielle WM-Kulturprogramm.
So weit, so gut in Europa? Nicht ganz. Als der renommierte Theaterregisseur Stefan Bachmann vor vier Jahren bei einer Hamlet-Inszenierung im Königlichen Theater Kopenhagen die Rolle der Ophelia mit einer Darstellerin mit Down-Syndrom besetzen wollte, verursachte das einen Skandal. Teile des Ensembles verweigerten die Weiterarbeit. Noch vor der Premiere wurde das Projekt gestoppt. In den Feuilleton-Kommentaren fielen - auch in Deutschland - längst überwunden geglaubte Argumente über Kunst und Ratio. Unter der Überschrift „Theater-Therapie“ beklagte beispielsweise der Berliner „Tagesspiegel“, dass eine solche Besetzung den Zuschauer unfrei mache, denn konfrontiert mit dem „physisch Vorgegebenen und Unabänderlichen“ würde „sein Mitgefühl gleichsam moralisch erpresst“. Einen geistig behinderten Menschen als Künstler wahrzunehmen und zu akzeptieren, ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit.
Auch auf den großen internationalen Festivals muss man integrative Gruppen mit der Lupe suchen. Zwar boomt Theater mit authentischem Bühnenpersonal gerade. Trotzdem laden die Veranstalter meist lieber den Community-Dancer Royston Maldoom mit einem seiner Laienprojekte ein als eine Gruppe, die sich der Arbeit mit Behinderten längerfristig verschrieben hat.
Gerade vor einem solchen Hintergrund kann man die Bedeutung von Festivals wie „No Limits“ in Berlin oder „Grenzenlos Kultur“ in Mainz nicht hoch genug einschätzen. Denn wenn integrative Kunst die ihr zugewiesenen Räume verlässt, sind ihre Möglichkeiten noch längst nicht grenzenlos.