Grenzenlos Kultur Vol. 13
Int. Theaterfestival
8.-24. September 2011,
Mainz

Diesseits von Eden

Bei seiner Gründung 1997 war „Grenzenlos Kultur“ das erste Festival für Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung im deutschsprachigen Raum. Auch heute noch gehört die Inklusion behinderter Künstler bei „Grenzenlos Kultur“ zum Selbstverständnis, doch längst ist das Lebenshilfe-Festival weit mehr als das: Es ist eine höchst lebendige Plattform für ungewöhnliche, nicht selten experimentelle, immer auch gesellschaftspolitisch motivierte Kunst- und Theaterformen.

Als Projekt zum Kultursommer-Motto 2011 „Natürlich Kultur“ versammelt „Grenzenlos Kultur“ in seiner 13. Ausgabe Arbeiten, die die vermeintliche „Natürlichkeit“ unserer  Leitkulturen hinterfragen, unsere vorherrschenden Lebensstile, Wertesysteme und Verhaltensmuster auf die Probe stellen und sich weigern zu glauben, dass die beste aller möglichen Welten bereits entdeckt ist. Denn, wie es bei Kleist heißt, „das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“

Eröffnet wird das Festival mit einer atemberaubenden Choreografie des Portugiesen Rui Horta. Ihr Titel – „Beautiful People“ – ist im doppelten Sinn zu verstehen: als ironische Absage an die Unmenschlichkeit unserer Hochglanzmagazine und als Liebeserklärung an die Schönheit der unperfekten Körper, in der ein durchaus utopischer Moment liegt. Der Gruppe, mit der Rui Horta zusammengearbeitet hat – Dançando com a Diferença aus Madeira – widmet das diesjährige Festival einen eigenen Schwerpunkt.

Kaum etwas eignet sich besser, unserer Zivilisation den Spiegel vorzuhalten, als die Figur des „Wilden“ – der natürlich selbst Produkt und Projektionsfläche dieser Zivilisation ist. Gleich mehrere Arbeiten nehmen ihn zum Ausgangspunkt: In den Vorurteilen, denen die Redakteure von Ohrenkuss nachgehen, ist dieser Wilde wahlweise „mongoloid“ oder mongolisch, in der Kindertheaterproduktion des Theaters an der Parkaue ist er ein Wolf und bei der Berliner Puppenbühne Das Helmi steigert er sich zum Wahnbild des Menschenfressers. Die Performancegruppe Monster Truck lädt die Zuschauer dazu ein, sich in seine Situation – als „Glöckner von Notre Dame“ – zu begeben, als Filmmonster King Kong wird er gleich in drei Variationen unter drei unterschiedlichen Aspekten „angeeignet“, und in der diesjährigen Festivaleigenproduktion „TuiaviiTours Mainz – Die Papalagi-Stadtrundfahrt“ wird der Spieß vollends umgedreht: Die Wilden, die besichtigt werden sollen wie Tiere auf einer Safari, sind wir hier in unserem alltäglichen Lebensumfeld.

Die Compagnie Création Ephémère aus Frankreich beschäftigt sich in „Variations Antigone“ mit unserer viel gepriesenen Handlungsfreiheit und die Produktion „Black Tie“ von Rimini Protokoll mit einem Körper, der in Osnabrück bei deutschen Eltern aufgewachsen ist, obwohl er koreanisch aussieht. Mit dem Baltazar Theater aus Budapest ist erstmalig eine integrative Theatergruppe aus Osteuropa zu Gast bei „Grenzenlos Kultur“. Ganz ohne Worte verstehen sie in ihrer Arbeit „Picasso – Die Erschaffung der Welt“ die Vertreibung aus dem Paradies als Herausforderung, ein Eden jenseits von Eden zu schaffen.

Abgerundet wird das Programm mit zwei Doppelkonzerten, die uns auf ihre Weise dem Paradies ein Stück näher bringen: Mit Richard Bawin und Jim Avignon geben sich zwei eigenwillige Gesamtkunstwerker die Klinke in die Hand, deren Musik neben allen anderen Qualitäten auch noch extrem gut tanzbar ist. Percujam und die 17 Hippies bringen in ihren Konzerten die unterschiedlichsten musikalischen Kulturen unter einen Hut und dann zum Abheben. In diesem Sinne: Tür auf!